DIE ZEIT

 

von Deborah Sontag

(Auszuege)

 Wäre Hissam Chader doch auch so gläubig. In dem Maße, wie Randar an Gott und Arafat glaubt, ist Chader, ein schrulliger palästinensischer Rechtsgelehrter, überkritisch. Einmal kletterte er im Parlament aufs Podium, um voller Sarkasmus ein neues Gesetz vorzuschlagen: dass Jassir Arafat ein für alle Mal zum Gott von Palästina erklärt werde.

Chader unterhält ein bescheidenes Büro im Flüchtlingslager Balata, einer Elendssiedlung am Rande von Nablus im Westjordanland. Hier war Chader aufgewachsen, und bei der ersten Intifada hatte er sich bereits politisch profiliert. Damals gehörte er zu den ersten Palästinensern, die von den Israelis per Hubschrauber in den Libanon deportiert wurden. Chader war durch und durch Fatah-Kämpfer - Arafats Fatah war damals wie heute die wichtigste politische Organisation -, und er verehrte Arafat, bis dieser aus dem Exil zurückkam und gemeinsam mit seinen Gesinnungsgenossen aus Tunis die palästinensische Autonomiebehörde übernahm. Chader war einer der ersten Palästinenser, die den Verdacht äußerten, dass sich die tunesischen Rückkehrer auf Kosten des Volkes bereicherten. Er warnte vor Korruption und rief die Regierung zu mehr Transparenz auf. Bei den Wahlen zum palästinensischen Legislativrat 1996, den Oslo ins Leben gerufen hatte, ließ Chader die Fatah links liegen und gewann als Unabhängiger.

Einige Tage vor dem Termin bei ihm in Nablus hatten palästinensische Polizeibeamte im Gaza-Streifen sechs Palästinenser getötet, die aus Protest gegen Arafats hartes Durchgreifen gegenüber islamistischen Gruppen auf die Straße gegangen waren. Nachdem sich Arafat zuvor dem Druck der Israelis und der Amerikaner, die militanten Islamisten festzunehmen, widersetzt hatte, hatte er schließlich nachgegeben, weil er sich international zunehmend isoliert fühlte.

Das war das Gesprächsthema in Chaders Vorzimmer. Chaders Assistent rief vehement aus: "Arafat ist ein Diktator!" Dann wurde er nervös und bat inständig, anonym bleiben zu dürfen. Chader, ein jovialer, schnauzbärtiger Typ, hatte da keine Bedenken. Er sagte, was er dachte, und bekräftigte seine Worte mit heiserem Gelächter.

Während des Gesprächs schauten einige Fatah-Mitglieder bei Chader vorbei. Schulterklopfend versuchten sie, ihn zur Teilnahme an einem Demonstrationsmarsch in Nablus zu überreden, der am folgenden Tag stattfinden sollte. Denn nach dem blutigen Zusammenstoß im Gaza-Streifen wollten sie Solidarität für Arafat demonstrieren. Sämtliche Schulkinder der Region, Regierungsangestellte und natürlich le tout Fatah würden dabei sein.

"Vergesst es", sagte Chader. "Diese Märsche werden nichts an der Tatsache ändern, dass unser Monsieur Arafat langsam, aber sicher seine Macht als Symbol für unseren nationalen Kampf verliert. Alles Viagra der Welt kann ihm seine Potenz nicht zurückgeben. Als die Israelis seinen Hubschrauber bombardiert haben, hättet ihr mich vielleicht überreden können, aus Solidarität mit Abu Amar auf die Straße zu gehen. Aber nicht am Ende einer Woche, in der palästinensische Sicherheitskräfte ihre eigenen Landsleute erschossen haben."

Chader lachte über die für den Marsch vorgesehenen Fahnen, auf denen stand, Arafat sei "der Held der legendären Standhaftigkeit bei den Verhandlungen von Camp David". Doch diese Fahnen muss man verstehen. Obwohl viele Israelis und Amerikaner glauben, dass Arafats "Standhaftigkeit" in Camp David für die Sache der Palästinenser tödlich war, wird darüber unter den Betroffenen kaum debattiert. Die meisten Palästinenser glaubten jedoch, so vermutete Chader, dass ihnen Camp David nichts weiter gebracht habe als ein unausgegorenes, überstürztes Ultimatum zu einem Abkommen. Sieben Jahre schon hatte sich der Friedensprozess nach dem Abkommen von Oslo hingezogen, und viele Palästinenser hatten den Glauben an Arafats Fähigkeit verloren, sein Versprechen einzulösen: die Gründung eines palästinensischen Staates im gesamten Westjordanland und im Gaza-Streifen mit Jerusalem als Hauptstadt. Doch als er mit leeren Händen aus Camp David zurückkam, applaudierten sie ihm. Besser, noch eine Generation abzuwarten, sagten sie sich, als nach einem halben Jahrhundert des Kampfes einen ungerechten Frieden zu akzeptieren.

Als im Jahr 2000 der Aufstand der Palästinenser begann, sah Chader wie viele andere darin eine Explosion von Frustration - über den Friedensprozess und die palästinensische Autonomiebehörde. Seiner Ansicht nach ist die Intifada militärisch erfolgreich, und das erklärt er kurzerhand so: "Für jeden dritten Palästinenser wurde ein Israeli getötet. Das ist das erste Mal, dass wir ein solches Verhältnis erreicht haben. Es hat eine Balance der Angst auf beiden Seiten geschaffen. Und Israels Angst gibt uns mehr Einfluss. Sehen Sie doch, was aus Baraks Angebot zwischen Camp David und Taba geworden ist." Noch während die Intifada tobte, trafen sich nämlich israelische und palästinensische Unterhändler im Januar 2001 im ägyptischen Taba, wo die Israelis ihr Angebot an die Palästinenser erheblich verbesserten. Doch die Verhandlungen endeten ohne Ergebnis und wurden vertagt bis nach der Wahl, die Barak im Februar 2001 verlor. Seitdem haben keine Friedensgespräche mehr stattgefunden.

Chader findet jedoch, dass die Intifada zu einer Racheorgie verkommen ist und beendet werden sollte. Arafat sollte alles in seiner Macht Stehende tun, um die Israelis zurück an den Verhandlungstisch zu bringen, was seiner Einschätzung nach dazu beitragen würde, die Regierung Scharon zu stürzen. Doch er ist tief enttäuscht, dass es die palästinensische Regierung geschafft hat, die geballte Wut der Palästinenser gegen die Israelis zu richten, und dass es keinen wirklichen Aufstand gegen die Behörde selbst gegeben hat. Er selbst hatte versucht, den Zündstoff dafür zu liefern. In aller Öffentlichkeit hatte er hohe Beamte der Autonomiebehörde kritisiert, weil sie ihre Familien nach Ausbruch der Intifada ins Ausland geschickt hatten. Doch seine Kritik verpuffte.

Im Falle einer Wiederaufnahme der Verhandlungen "werden uns also dieselben korrupten Menschen repräsentieren", sagte Chader. "Ich bete zu Gott, dass ich eines Morgens aufwache und diese Leute mit ihrem Geld und ihren Kindern nach Europa geflohen sind. Wenn ich Arafat wäre, würde ich versuchen, mein Haus in Ordnung zu bringen. Wenn er als Held sterben möchte, wird er das auch tun. Andernfalls geht er nicht in die Geschichte ein. In der Thora steht geschrieben, dass viele, die jetzt im Grab liegen, geglaubt haben, das Leben gehe ohne sie nicht weiter. Doch es geht weiter."


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